In unserem Buch gehen wir nur am Rande darauf ein, was es für die Geldpolitik genau bedeutet, wenn es (zu)viel «grüne Flüssigkeit» oder Reserven gibt. Grosse Mengen an Reserven entstehen dann, wenn von den Zentralbanken Quantitative Easing oder in der Schweiz Devisenmarktinterventionen betrieben werden. Diese unkonventionelle Geldpolitik und die damit verbundenen riesigen Gelmengen führen zu einem Zinsregime, welches im Fachjargon Floorsystem genannt wird. Im Gegensatz dazu gab es davor ein sog. Korridorsystem. Diese wiederum können mit oder ohne Zinsstaffelung realisiert werden. Das klingt alles wohl etwas kryptisch, doch der Themenbereich ist sehr aktuell. Im vergangenen Herbst (2023), haben die Schweizerische Nationalbank (SNB) und die Europäischen Zentralbank (EZB) entschieden, auf einen Teil der Reserven keine Zinsen mehr zu bezahlen, u.a. vermutlich auch mit einem Gedanken an die Politik (siehe letzter Blog hier). Diese Entscheide spielen genau in die angesprochenen Zinsregime hinein. Wie die entsprechenden Zusammenhänge aussehen, das soll in diesem Blogbeitrag erklärt werden.
In der Geschichte von Econville vermitteln wir das monetäre System mit Zentralbanken und die damit verbundene «grüne Flüssigkeit» als Ergebnis verschiedener Entwicklungsschritte. Die Banken in Econville vor der Gründung einer Zentralbank haben für jeden Goldtaler Zettel ausgegeben, weil es zu mühselig und unsicher war, immer die Goldtaler mit sich zu schleppen. Die Zettel in Econville sind nichts anderes als Geld, jedoch mit zwei gravierenden Unterschieden zu unserem Geld heute: Jeder Zettel ist mit einem Goldtaler gedeckt («vollgedecktes» Geldsystem), und es gibt keine Einheitswährung; jede Bank gibt ihre eigene Art von Zetteln aus – grün, rot, gelb, blau …Anhand von kreditfinanzierten (und etwas fantastischen) Projekten wird in der Geschichte erläutert, welche Vor- und Nachteile dieses System hat. Im Endeffekt entscheiden sich die Econviller für ein neues System mit Einheitswährung und einer Zentralbank, um die Finanzstabilität zu sichern. In einem Zeitpunkt Null, in dem alle Kredite zu 100% abgeschrieben werden, starten sie das neue System – unsere moderne Geldwirtschaft. Die Golddeckung wird damit aufgeben. Jede Bank gibt ihre Goldtaler ab und erhält dafür Liquidität, welche wir im Buch «grüne Flüssigkeit» nennen. Es sind die Reserven der Geschäftsbanken, die bei der Zentralbank auf der Bilanz auf der Passiv- und in den Bilanzen der Geschäftsbanken auf der Aktivseite verbucht werden. Die Geschäftsbanken dürfen jederzeit Reserven bei der Zentralbank in Bargeld umtauschen. Somit gehört das Bargeld und die «grüne Flüssigkeit» (Reserven) zum Zentralbankengeld. Zentralbankengeld wird auch als Basisgeld oder M0 bezeichnet. Privatpersonen und alle Nicht-Banken kommen mit Zentralbankengeld nur in Form von Bargeld in Berührung, nicht in Form von «grüner Flüssigkeit». Das ist Banken vorenthalten, denn es ist gesetzlich geregelt, dass jede Zahlung zwischen Banken (inkl. Zentralbank) in «grüner Flüssigkeit» erfolgen muss. Zahlt also Anna von der X-Bank 5 CHF an Beat bei der Y-Bank, dann ändern sich nicht nur die Kontostände von Anna und Beat, sondern auch die Kontostände der Reserven der beiden involvierten Banken: die X-Bank verliert 5 CHF an Reserven, und die Y-Bank «gewinnt» diese 5 CHF an Reserven. Das Geld von Bankkunden nennen wir Bankengeld. Es ist keine «grüne Flüssigkeit». Da Banken für Kredite Bankengeldschöpfung betreiben können, gibt es in einer modernen Geldwirtschaft grundsätzlich mehr Bankengeld in einer Bank als Reserven. Eine Bank muss also aufpassen, dass sie immer genügend «grüne Flüssigkeit» in Reserve hat, um Zahlungen zu tätigen – daher der Name «Reserve». Dieses «Aufpassen» nennt sich Liquiditätsmanagement der Banken.
Hat eine Geschäftsbank A viele Kredite ausgegeben, werden höchstwahrscheinlich mehr Zahlungen fällig als bei einer Geschäftsbank B, die nur wenige Kredite vergeben hat. Erstere benötigt eventuell «grüne Flüssigkeit» und letztere hat eventuell Reserven übrig, die sie gern zinsbringend verleihen würde. Dieser Verleih-Zinssatz bestimmt sich auf dem Interbankenmarkt und ist somit ein Interbankenzinssatz. Einige Banken benötigen Reserven, andere wollen die ihrigen ausleihen. Angebot und Nachfrage zusammen ergeben einen Preis für Reserven, eben den Interbankenzinssatz. In der Schweiz heisst der wichtigste Interbankenzins SARON (Swiss Average Rate Over Night). Der SARON ist der durchschnittliche Zinssatz, zu dem sich Geschäftsbanken über Nacht gegenseitig Geld ausleihen. Damit ist der SARON ein Tagesgeldsatz (Übersetzung von «Over Night Rate»). Es gibt weitere Interbankenzinssätze, die sich auf andere Fristigkeiten (1-Woche, 1- Monat, 3-Monate etc.) beziehen, aber grundsätzlich sind Interbankengeschäfte eher kurzfristig.
Zentralbanken kommunizieren typischerweise ihre Gelpolitik mit Hilfe eines Leitzinssatzes. Den kommunizierten Leitzins sollte man als Zielgrösse für den Interbankenzins verstehen. Dieser übertragt sich dann auch auf ähnliche Märkte bzw. Zinssätze; z.B. hat der SARON in der Schweiz einen Einfluss auf den Hypothekarzinssatz, der Euribor (ein Interbankenzinssatz in der EU) einen Einfluss auf die Zinsen eines Studiendarlehens in Deutschland oder einfach auf ähnliche Zinssätze auf Finanzmärkten. Wegen dieses Übertragungseffektes kann die Zentralbank mit der Beeinflussung des Interbankenzinses das Zinsniveau insgesamt am kurzfristigen Ende beeinflussen. Das Zinsniveau wiederum ist entscheidend für die allgemeine Entwicklung von Preisen in der Wirtschaft (siehe letzter Blog hier). Der Interbankenzins ist also für eine Zentralbank eine äusserst wichtige Stellschraube. Dennoch kann sie aber die Geschäftsbanken nicht zwingen, zum Leitzins Geschäfte abzuwickeln…
Wie erreicht nun die Zentralbank (trotzdem) ihr Ziel, einen Einfluss auf den Interbankenzins zu haben? Sie setzt «ganz einfach» eine untere und obere Zinsgrenze und automatisch kommt der Interbankenzins dazwischen zu liegen. Wenn eine Geschäftsbank 1% Zinsen auf ihre «grüne Flüssigkeit», die bei der Zentralbank liegt, bekommt, dann lohnt sich das Ausleihen von Reserven am Interbankenmarkt nur, wenn sie dort einen höheren Interbankzins bekommt, als wenn sie die Reserven einfach bei der Zentralbank liegen lässt. Somit muss der Interbankensatz über 1% liegen. Es gibt auch eine obere Grenze – der Zins, der fällig wird, wenn eine Geschäftsbank direkt bei der Zentralbank leiht. Die untere Grenze heisst in der Schweiz «Zins auf Sichtguthaben» und die obere «Sondersatz (Engpassfinanzierungsfazilität)». Letztere beträgt im November 2023 2.25%; der SNB-Leitzins liegt bei 1.75% und der SARON bei 1.7%, also nah beim gewünschten Ziel von 1.75%, siehe hier.
Leider (für diejenigen, die es einfach mögen) gibt es in der Schweiz jedoch keinen einheitlichen Zinssatz für die untere Grenze, weil die Reserven, die bei der Zentralbank liegen, unterschiedlich hoch verzinst werden – mit anderen Worten, es gibt eine «Staffelung». Es gibt drei Kategorien, wie im Bild unten gezeigt. Alle Zinssätze beziehen sich auf den Herbst 2023.
![](https://econville.net/wp-content/uploads/2023/11/mindestreserve.jpg)
Knapp 5% aller Reserven sind in der Schweiz Mindestreserven. Die Mindestreserven sind gesetzlich vorgeschrieben und betragen grob 1% der Kundengelder. Hierauf bezahlt die SNB seit Herbst 2023 keine Zinsen mehr, d.h. die Verzinsung beträgt de facto 0% (siehe letzter Blog hier). Die SNB hat neu eine weitere Grenze eingeführt, die sich (obere) Limite nennt. Bis zu dieser Limite bezahlt die SNB den Leitzins (aktuell 1.75%). Diese (obere) Limite ist als Vielfaches von den Mindestreserven bestimmt. Das Vielfachte beträgt neu 25, gültig ab 1. Dezember 2023 (davor war das entsprechende Vielfache 28). Oberhalb dieser Limite bezahlt die SNB nicht den Leitzins, sondern einen geringeren Satz (im November 2023 ist das der Leitzins abzüglich 0.5%=1.25%). Dadurch, dass die Banken unterschiedlich viele Kundengelder haben, haben sie auch unterschiedlich hohe Mindestreserven bei der Zentralbank liegen, und ebenso ist auch ihre obere Limite verschieden hoch. Es gibt Banken, die Reserven über der Limite und Banken, die Reserven unter der Limite halten.
Wie hoch fällt nun durchschnittlich die Verzinsung für eine Bank aus? Hat eine Bank Reserven unter der Limite, wird ihre untere Grenze bei 0.95*1.75%= 1.6625% sein. Das ergibt sich aus folgender Rechnung: 95% ihrer Reserven werden mit 1.75% verzinst, und 5% mit 0%. Für diese Bank liegt die durchschnittliche Verzinsung der Reserven durch die SNB unter dem Interbankenzinssatz SARON von aktuell 1.7% – genauso wie es sein soll. Der Marktzins auf dem Interbankenmarkt liegt über der unteren Zinsgrenze. Diese Staffelung der Zinsen auf die Sichtguthaben der Geschäftsbanken bei der Zentralbank wurde mit der Einführung von Negativzinsen am 18. Dezember 2014 gültig. Davor gab es gar keinen Zins auf Sichtguthaben. D.h. die untere Zinsgrenze war einfach 0%.
Die Staffelung hat zur Folge, dass Banken mit Reserven über der Limite Interesse haben, Geld an Banken zu leihen, welche ihre Limite nicht überschreiten. Beide Banken – diejenigen mit Reserven über der Limite und diejenigen darunter – profitieren bei einem Zinssatz zwischen 1.25% und 1.75% (Zahlen vom November 2023). Der SARON liegt mit 1.7% tatsächlich in dieser Spannbreite. Die geldannehmende Bank A, die ihre Limite mit Reserven nicht erreicht, kann Geld zu 1.75% bei der SNB bis zu Limite anlegen. Zahlt sie der verleihenden Bank B nun den SARON von 1.7%, macht sie Gewinn von 0.05 Prozentpunkten auf das Geld. Die verleihende Bank B, die genügend Reserven über der Limite besitzt bekommt so 1.7%, würde aber ohne das Interbankengeschäft bei der SNB nur 1.25% bekommen. Die SNB staffelt die Zinsen auf den Sichtguthaben, damit Handel auf dem Interbankenmarkt stattfindet und sich damit ein Marktzins (SARON) bilden kann, der ganz in der Nähe des gewünschten Leitzinses zu liegen kommen soll. Die Staffelung der Zinsen trägt also zur Durchsetzung des Leitzinses bzw. der Geldpolitik bei.
Vor der Finanzkrise 2008 waren Reserven knapp bemessen. Die Wirtschaft lief gut und viele Kredite wurden nachgefragt, die viele Zahlungen nach sich zogen. Es herrschte ein reger Handel auf dem Interbankenmarkt, damit Banken ihrem Liquiditätsmanagement gerecht wurden. Auf den Reserven gab es keine Zinsen, die untere Zinsgrenze lag somit bei 0%. Es lohnte sich, sie auf dem Interbankenmarkt zu verleihen, um dort positive Zinsen zu verdienen. Die obere Grenze ist durch den Sondersatz bzw. die Engpassfinanzierungsfazilität gegeben (den Sondersatz gibt es seit 2004). Der Interbankensatz (früher LIBOR, ab 2022 SARON) kam einigermassen mittig zwischen den beiden Grenzen zu liegen. Ganz in diesem Sinne wurde der Leitzins auch «mittig» kommuniziert und konnte durch die Setzung der oberen Grenze und durch das Steuern der Geldmenge gut durchgesetzt werden. Bei einer Verknappung der Reserven stieg der Interbankenzinssatz, bei einer grosszügigeren Versorgung sank er. Dieses Art der Leitzinssteuerung heisst «Korridorsystem», weil der Interbankenzinssatz sich in einem Korridor bildet. Mit der «Korridorbreite» und der Reserven-Geldmengensteuerung war damals eine effektive Steuerung des Zinsniveaus möglich.
Nach 2008 wurde bekanntermassen die «grüne Flüssigkeit» stark ausgeweitet (siehe Kapitel 7 im Buch) – man spricht von «Überschussreserven» – und der Handel auf dem Interbankenmarkt kam damit fast zum Erliegen. Warum sollten Reserven gehandelt werden, wenn doch alle Banken genügend davon haben? Wie soeben erläutert, ist die beschriebene Staffelung der Zinssätze auf die Reserven ein cleveres System, um dennoch Handel auf dem Interbankenmarkt zu erzeugen! Der sich so bildende Marktzinssatz lässt sich dann auch mit geldpolitischen Massnahmen (Leitzins, untere gestaffelte und obere Grenzen) steuern. Das Ergebnis ist ein Interbankenzinssatz, der zwar trotzdem sehr nah an der unteren Grenze liegt, sich aber immerhin selbständig auf einem Markt gebildet hat. Dies ist das System, welche die SNB in der Schweiz implementiert hat. Es ähnelt einem Korridorsystem, aber die Reserven sind hier eben nicht knapp. Etwas gekünstelt – mit Zinsstaffelung – kommt hier ein Marktzins zwischen unterer und oberer Grenze zustande, der sehr nah an der unteren Grenze liegt.
In den USA und Europa gibt es aktuell keine Staffelung der Zinsen oberhalb der Mindestreserven. Die Staffelung besteht nur darin, dass die Mindestreserven keine Zinsen «ernten», während darüber ein einheitlicher Zins auf Sichtguthaben gilt. Die EZB hat die positiven Zinsen auf die Mindestreserve im September 2023 abgeschafft. Im Euroraum heisst der Zins auf Sichtguthaben «Einlagefazilität» und in den USA «deposit rate» (in der Schweiz eben «Zins auf Sichtguthaben», aber gestaffelt mit verschiedenen Sätzen!). Verkürzt liest man in der deutschsprachigen Presse oft einfach vom Einlagesatz – Einlagefazilität ist ein schwieriges Wort, «Zins auf Sichtguthaben» ist sehr lang und «Einlagesatz» entspricht tatsächlich auch der direkten Übersetzung von «deposit rate» . In alle drei Fällen handelt es sich um Tagesgeldsätze. Ohne Staffelung ist der Einlagensatz der Zentralbank die natürliche Untergrenze für die Kosten von Tagesgeldausleihen auf den Geldmärkten, denn Reserven können sicher bei der Zentralbank zum Einlagezins angelegt werden. Banken würden nur verleihen, wenn der Interbankenzins höher wäre. Aber wer möchte Geld ausleihen, wenn alle doch genügend haben und diese noch sicher verzinst werden? Aufgrund der reichlich vorhandenen Liquidität haben die Banken also kaum Bedarf sich gegenseitig Geld zu leihen. Stattdessen parken sie überschüssiges Geld einfach bei der Zentralbank und erhalten dafür Zinsen in Höhe des Einlagesatzes. Es ist eben kein Zinsdifferenzgeschäft wie bei einer Zinsstaffelung in der Schweiz möglich. Im Euroraum gilt somit:
Untere Grenze = Einlagefazilität = Tagesgeldsatz = Interbankenzinssatz (= Leitzins)
Der «Leitzins» steht in Klammern, weil im Euroraum gar nicht von DEM Leitzins gesprochen wird. Es wird in den Medienmitteillungen regelmässig von den «drei Leitzinssätzen der EZB » gesprochen. Dies umfasst den Einlagesatz (beträgt im November 2023 4%) und zwei obere Grenzen: Hauptrefinanzierungssatz (im November 2023 4.5%) und Spitzenrefinanzierungsfazilität (4.75%) – letzterer gilt, wenn im «Notfall» von der EZB geliehen werden muss.
![](https://econville.net/wp-content/uploads/2023/12/mindestreserve_usa_eu.jpg)
De facto ist damit der Interbankenzinssatz als Tagesgeldsatz kein Zinssatz mehr, der auf einem Markt – d.h. dem Interbankenmarkt – entstanden ist. Er ist durch die Zentralbank gesetzt. Dieses System nennt man ein Floor-System. In einem Floor-System ist dieser Zinssatz also unabhängig von der existierenden Geldmenge, da er sich sowieso durchsetzt, – natürlich vorausgesetzt, dass wir uns in einer Welt mit Überschussreserven befinden und damit Handel auf Interbankenmärkten obsolet wird. Floor-Systeme ermöglichen es Zentralbanken, die Geldmenge und die Zinssätze unabhängig voneinander zu steuern. Dieses zweifache Instrumentarium ist im Falle einer Krise von Vorteil. Dieser Vorteil muss gegenüber den Nachteilen von Überschussreserven abgewogen werden. Ein Nachteil davon kann sein, dass sehr hohe Geldmengen Inflationserwartungen auslösen. Ein weiterer Nachteil besteht darin, dass der Zins, konkret der Tagesgeldsatz, kein Marktzins mehr ist und somit potenziell Informationssignale, die über die Zins- bzw. Preisbildung am Interbankenmarkt entstehen würden, verloren gehen. Die Folge ist für alle Finanzmarktakteure eine stärkere Abhängigkeit von einem Zinssatz, der von einer kleinen Expertengruppe in den Zentralbanken gesetzt wird.