Als wir den Buchtext Ende Sommer 2022 abgeschlossen hatten, war gerade erst eine Phase von rekordtiefen Zinsen und Inflation vorüber. Wie sieht die Lage nun im Frühjahr 2023 aus? Im März 2023 erhöhten die Zentralbanken in der Schweiz, in Europa und in den USA zum wiederholten Male ihren Leitzinssatz. Die folgende Bildstrecke (Abbildungen 1 bis 3) zeigt die Inflationsrate in % des Vorjahresmonats und den Leitzinssatz – je für die Schweiz, Europa und die USA. Jedes Bild ist verlinkt mit unserer Datenvisualisierungs-Plattform DataSight. Dort ist die Grafik auch interaktiv nutzbar. Beachten Sie die Bandbreiten der Werte auf den vertikalen Achsen. Sie unterscheiden sich von Land zu Land. Beispielsweise reicht die Skala der amerikanischen Leitzinsen bis 20% und der europäischen Zentralbank EZB nur bis 4%. Bei der Schweiz rutschen die Leitzinsen ins Negative, was in Europa und den USA nicht der Fall ist.
Bei allen drei Bildern steigen die Leitzinsen mit den steigenden Inflationsraten. Die Inflationsraten in der Schweiz sind deutlich tiefer als diejenigen in Europa oder den USA. Die grössten Preissteigerungen sind im Sommer 2022 zu beobachten. In Europa betrug damals die Rate 11.5% und in den USA knapp 10%. Am aktuellen Rand (die letzten Zahlen kommen vom März 2023) ist die durchschnittliche europäische Inflation bei immer noch knapp 10% doppelt so hoch wie die amerikanische bei 5%. Die Schweiz ist mit 2.9% fast harmlos. In allen Ländern reagierten die Zentralbanken verzögert auf die zunehmende Inflation, aber die Zinssteigerungen halten bis heute an. Die amerikanische Zentralbank Fed vollzog den ersten Zinsschritt im März 2022, die Schweizerische Nationalbank (SNB) im Juni des gleichen Jahres, gefolgt von der Europäischen Zentralbank (EZB) im Juli 2022.
Die Zinssteigerungen halten an, weil die Inflationsraten immer noch über dem Preisziel von 2% liegen. In Europa und den USA zeigen sich die Zentralbankgremien sehr besorgt darüber, dass, die Kerninflation nicht abnimmt – auch wenn die Gesamtinflation sinkt (siehe Abbildung 4 und 5). Die Kerninflation misst die Preisänderungen ohne Nahrungsmittel- und Energiepreise, weil letztere sehr volatil sind. Im Endeffekt orientieren die Zentralbanken ihre Geldpolitik v.a. auch an der Kerninflation. Eine steigende Kerninflation bedeutet, dass die Preissteigerungen nicht (nur) auf teurere Nahrungsmittel- oder Energiepreise zurückzuführen sind, sondern das Preisniveau auf breiter Basis zunimmt.
Wie man dem Buch entnehmen kann, betreibt eine Zentralbank Geldpolitik nicht nur über den Leitzinssatz, sondern es gibt auch die «unkonventionelle» Geldpolitik (siehe Kapitel 8). Die EZB und die Fed weiteten vor den inflationären Zeiten die Geldmengen mit Quantitative Easing stark aus, um Deflation zu verhindern und die Wirtschaft anzukurbeln. Sie kauften dafür hauptsächlich viele inländische Staatsanleihen. Die Schweizerische Nationalbank intervenierte am Devisenmarkt und kaufte mit den so erhaltenen Devisen ausländische Wertpapiere. Das stabilisierte den Wechselkurs und ebenfalls das Preisniveau und kurbelte die Wirtschaft über günstige Exporte an. Die Welt hat sich nun spätestens seit 2022 gedreht: Wir leben in inflationären Zeiten und eine Zinswende ist erfolgt. Wir würden somit erwarten, dass sich auch die unkonventionelle Geldpolitik «dreht». Dies ist in der Tat der Fall. Am besten erkennt man dies in der Abnahme oder zumindest in der Stagnation der Zentralbankengeldmenge bzw. der «grünen Flüssigkeit» in Abbildung 6 bis 8.
In der Schweiz und den USA ist es deutlich zu sehen, wie sich die «grüne Flüssigkeit» gleichzeitig mit den steigenden Leitzinsen verringert. Bei der EZB ist die bekannte zögerliche Reaktion gut zu erkennen: Die Leitzinsen steigen im Vergleich zum Preisanstieg mit einer Verspätung (siehe Abbildung 2), und auch die Zentralbanken-Geldmenge stagniert bis im Januar 2023. Erst danach ist ein Absinken zu erkennen.
In der Schweiz scheint die SNB seit April 2022 netto keine nennenswerten Devisenmarkttranskationen (ausländische Devisen mit «frischen» CHF kaufen) durchzuführen; die «grüne Flüssigkeit» nimmt ab diesem Zeitpunkt sogar ab. D.h. es werden netto Anlagen von der SNB verkauft, die erhaltenen Devisen in CHF umgetauscht und diese «grüne Flüssigkeit» vernichtet.
In Abbildung 9 erkennt man, dass der CHF/EUR-Wechselkurs zuerst reagiert wie erwartet: Der Franken nimmt an Wert zu (der Wechselkurs CHF pro Euro nimmt ab) und erreicht seinen höchsten Wert im Herbst 2022 mit 0.96 CHF pro Euro. Äusserst spannend dabei ist, dass der CHF ab diesem Zeitpunkt wieder an Wert verliert, also schwächer wird, obwohl die Zentralbank-Geldmenge weiterhin schrumpft und die Inflation in der Schweiz geringer ist als in anderen Währungsräumen. Die Welt fragt wohl weniger Schweizer Franken nach. Die SNB wird erleichtert sein.
Zum Abschluss wagen wir einen Blick in die Zukunft. Werden die Zentralbanken weiter die Zinsen erhöhen? Für die USA und Europa hat uns die Zukunft mit der Veröffentlichung dieses Textes bereits eingeholt: Gestern entschied die Fed die zehnte Leitzinserhöhung mit 0.25 Prozentpunkten in Folge. Sie signalisierte aber für die Zukunft eine Pause. Manche spekulieren auf Grundlage der Pressemitteilung sogar darauf, dass die Zinsen im September sinken könnten.
Auch die EZB straffte ihre Zinspolitik heute zum siebten Mal in Folge ebenfalls um 0.25 Prozentpunkte, denn wie in den USA ist die Inflation im Verhältnis zum Inflationsziel von 2% immer noch hoch, und die Kerninflation sinkt nicht. Die EZB kündigte darüber hinaus an, die Geldmenge („grüne Flüssigkeit“) weiter zu reduzieren. Ab Juli wird der Betrag aus fälligen Anleihen, der dann nicht mehr reinvetiert wird, erhöht. Diese Beträge, die in Form von „grüner Flüssigkeit“ an die EZB fliessen, werden also „vernichtet“.
Für die Schweiz trifft beides nicht zu: keine hohen Inflationsraten und keine steigende Kerninflation. Dementsprechend ist die Prognose schwieriger. Eine Zinssenkung steht wohl nicht zur Debatte, denn die Inflation liegt ja noch über der Zielmarke. Aber ein Belassen des Leitzinsniveaus ist gut vorstellbar. Das ist sicher auch abhängig davon, wie robust die SNB die Schweizer Wirtschaft einschätzt. Ebenfalls ist es abhängig vom Ausmass, in dem die SNB eine Abweichung der Zinsen in der Schweiz von den ausländischen Zinsen zulässt.